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Opfer der Missbrauchs-Inquisition in Frankreich

Presseberichte

Vierzehn Männer und Frauen saßen in Frankreich unschuldig wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis. Zu ihnen gehörte Alain Marécaux. Nun ist er frei...

Axel Veiel, am01.03.2006



CALAIS. Er hat gewusst, dass es das gibt. Aber Alain Marécaux vermutete es nicht hier, sondern weit weg. Nordkorea schien ihm der Ort, an dem unbescholtene Bürger im Morgengrauen verhaftetet und ins Gefängnis geworfen werden. Aber Frankreich? Allenfalls im Mittelalter, sagte sich Marécaux, mochten seine Landsleute der Willkür der Mächtigen und ihrer Schergen ausgeliefert gewesen sein. Aber wieso war er es? Wie war es möglich, dass er, der aus Lille stammende Familienvater, ein Gerichtsvollzieher, als einer der Kinderschänder von Outreau festgenommen worden war? In den Jahren, in denen er unschuldig im Gefängnis saß, hatte er darüber nachgedacht, bis er schließlich zu denken aufhörte. "Irgendwann bin ich in einer Art Koma versunken", erzählt er.

Anfang Dezember ist er in einem Berufungsverfahren freigesprochen worden. Er dämmert nicht mehr vor sich hin, er will wieder verstehen. Nichts lenkt mehr ab. Der Blick auf Calais bleibt im Nieselregen hängen, der seit Tagen über die nordfranzösische Hafenstadt hernieder geht. Kein Laut dringt in die Wohnung, die der 42-Jährige nahe des Bahnhofs gemietet hat. Und so schreitet Marécaux noch einmal die Trümmer seines Lebens ab, versucht sich an einer Bestandsaufnahme. Sie fällt vernichtend aus.

Das Landhaus, in dem er bis zu seiner Festnahme mit seiner Frau und den drei Kindern lebte, hat er verkauft, um den Anwalt bezahlen zu können. Die Ehe ist zerbrochen. Odile hat ihn verlassen. Auch sie war unschuldig als Kinderschänderin verhaftet worden. In der Bretagne lebt sie jetzt mit der Tochter und dem jüngsten Sohn. Der ältere hat sich vom Vater abgewandt. Dass der Erwachsene, dem er nacheifern wollte, als Sexualverbrecher 20 Jahre hinter Schloss und Riegel kommen sollte, war mehr, als der damals 13-Jährige verkraften konnte. "Der Junge pendelte zwischen Heimen und Gastfamilien hin und her, brach mit 14 Jahren die Schule ab und ist heute das, was man asozial nennt", sagt Marécaux.

Dreitagebart, Bassstimme und fester Blick lassen an einen Mann denken, der stark genug ist, um ganz von vorne anzufangen. Aber dann stockt die Stimme, flackert der Blick. Der Kopf scheint zwischen den Schultern versinken zu wollen, die Hände suchen Halt. "Ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass sie wieder kommen und mich holen", sagt er. An der Wohnungstür sind drei Riegel montiert, einer über dem anderen.

Dabei hat Marécaux nichts mehr zu befürchten. Er ist nicht nur rehabilitiert, ihm gilt das Mitgefühl der Nation. Frankreichs Staatschef Jacques Chirac hat ihm geschrieben und sich entschuldigt. Der Justizminister hat ihn und die anderen Freigesprochenen empfangen, von einer Justizkatastrophe hat er gesprochen, die aufzuarbeiten sei. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss versucht, die Ursachen der Katastrophe zu finden. Im Juli soll er Empfehlungen für Reformen vorlegen. Und auch Haftentschädigung wird es geben für diejenigen, die in Frankreich die Outreau-Opfer genannt werden.

Outreau, das ist jene Kleinstadt südlich des Seebads Boulogne-sur-Mer, in der im Februar 2001 alles angefangen hatte. Vier Kinder, die von ihren Eltern über Jahre hinweg vergewaltigt worden waren, wussten dort irgendwann nicht mehr zwischen Albtraum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie erklärten zu Mittätern, wer immer ihnen bekannt vorkam: den Lebensmittelhändler, den Bäcker nebenan, den Taxifahrer an der Ecke, die Arzthelferin und eben auch Marécaux. Er war der Vater eines Mitschülers der gepeinigten Kinder.

Getrieben von missionarischem Eifer oder persönlichem Ehrgeiz griffen Untersuchungsrichter und Sachverständige durch. Pädagogen bereiteten auf, was sie aus Kindermund vernommen hatten. Sie reichten den Jungen und Mädchen Fotos potenzieller Täter, und der Psychologe Michel Emirzé bescheinigte dann den Verdächtigen Charakterzüge, "wie sie bei zu sexuellem Missbrauch neigenden Menschen häufig anzutreffen" seien. Einer der Anwälte verglich dieses Gutachten mit einer Expertise, in der dem Besitzer einer Videokamera attestiert werde, dass er ein mit Vorliebe zur Herstellung von Kinderpornografie eingesetztes Gerät besitze. Neben den geständigen Eltern der Kinder kamen 14 Unschuldige hinter Gitter. Einer brachte sich in der Zelle um. Sieben wurden im Juni 2004 freigesprochen, die restlichen sechs im Berufungsverfahren im Dezember 2005.

Auch Marécaux wollte sich das Leben nehmen. Im Gefängnis von Amiens hörte er auf zu essen. Irgendwann wog er nur noch 48 Kilo. Nach dem Tod seiner Mutter war das. In Handschellen war er in die Kirche und auf den Friedhof geführt worden. Als er wieder in der Zelle saß, schwand der letzte Lebensmut.

Schon der Anblick des Gefängnisses deprimiert. An einer Ausfallstraße steht es. Die Wände tragen Rußspuren. Von Metalltoren blättert Farbe. Das Plexiglas ist vergilbt. Eine Marmortafel erinnert an "Patrioten", die hinter den Backsteinmauern der Haftanstalt "von Nazi-Barbaren hingerichtet wurden". Drinnen, erzählt Marecaux, sei nichts als Brutalität. Im Fernsehen liefen Gewaltfilme, auf den Fluren galt das Faustrecht. Wenn er zum Duschen ging, nahm er stets eine Gabel mit.

Ende Januar hat Marécaux dann noch einmal versucht, seinem Leben ein Ende zu machen. Schlaftabletten hat er genommen. Ärzte haben ihm den Magen ausgepumpt. Nach dem Besuch des ältesten Sohnes war das, des Sohnes, der in die Kriminalität abgeglitten ist. "Ausgerechnet du musst von Recht und Unrecht reden, du, der Unschuldsengel im Knast", hatte der Sohn gehöhnt.

Auf einem geblümten Sofa sitzt Marécaux nun. Eine der Leihgaben, die ihm Freunde und Bekannte zukommen ließen, als er nach der Entlassung vor dem Nichts stand. Barhocker, Sessel, Bretterkonsole, nichts passt zusammen in diesen vier Wänden, die dem ins Leben Zurückgestoßenen "ein Provisorium" sind, wie er sagt. Doch es gibt auch schon etwas, das er behalten möchte, das ihm kostbar ist. Briefe und Ansichtskarten sind es, die er nach seinem im Fernsehen übertragenen Auftritt vor der Untersuchungskommission erhalten hat und die sich auf dem Couchtisch zu Bergen türmen. "Alain, wir stehen hinter dir", schreiben ihm unbekannte Landsleute, oder: "Kämpfe für deine Kinder!" "Sie duzen mich", sagt Marécaux und lächelt.

Er zieht eine Ansichtskarte aus dem Postberg, legt sie zurück, reibt sich die Augen. Er leide unter Sehstörungen, erzählt er. Die Überlagerung äußerer und innerer Bilder rufe sie hervor. Das Bild, das nur er sehen kann und das den Blick trübt, stammt vom 14. November 2001, dem Tag der Verhaftung.

In Wirwignes lebte er damals. Ein Dorf ist das, zehn Kilometer westlich von Outreau. Apfel- und Birnbäume gedeihen dort, Haselnusssträucher und Weiden. Um Stämme rankt sich Efeu, in Kronen hängen Misteln. Ein geräumiges Haus hatte Marécaux in Wirwignes erstanden. Besonders das Wohnzimmer mochte er, diesen 50 Quadratmeter weiten Saal mit den Wandteppichen und dem gemauerten Kamin. Schaute er durchs Fenster, fiel der Blick auf Felder, Wiesen und Wälder. Alles schien ihm geräumig und großzügig. Anstatt Zäune zeigten wild wuchernde Hecken, wo der eigene Besitz endete und der des Nachbarn begann.

6.30 Uhr war es, als Marécaux das "Aufmachen, Polizei!" hörte, hochschreckte, den Lichtschalter suchte. Die Beamten behandelten ihn, wie man eben jemanden behandelt, der Kinder vergewaltigt haben soll: Marécaux durfte keinen Kaffee aufsetzen, nicht frühstücken, nicht telefonieren, keine Termine absagen. Er erfuhr nicht, in welchem Heim, welcher Gastfamilie seine Kinder unterkommen würden, das sechs Jahre alte Mädchen, der zehn- und der 13-jährige Junge. Er sollte sie drei Jahre lang nicht wiedersehen.

Am häufigsten sah er fortan Hubert Delarue, seinen Anwalt. Der 56-jährige Jurist aus Amiens hat mit dem Fall Outreau auch noch nicht abgeschlossen. Der Strafverteidiger sieht nicht eben aus wie ein Aufrührer, auch hat er seine Kanzlei an traditionellem Ort eingerichtet, auf halbem Weg zwischen Kathedrale und Justizpalast. Das hindert ihn freilich nicht, im Namen seines Mandanten zum Umsturz aufzurufen. Die Institution des Untersuchungsrichters will Delarue in Frankreich abschaffen. Weil im Fall Outreau kein Staatsanwalt, sondern ein Richter ermittelt habe, hätten die Kontrollmechanismen nicht funktioniert, glaubt der Jurist. Die Richter höherer Instanz hätten, von Korpsgeist beseelt, den übereifrigen Kollegen gewähren lassen. Ob der Untersuchungsausschuss im Juli eine dahingehende Reformempfehlung verabschieden wird?

Eine Schiffssirene heult auf. Die Fähre nach Dover legt ab. "England, nur zwei Schritte von hier", verkünden Plakate vor Marécauxs Wohnung. Billige Absteigen und Fast-Food-Restaurants wetteifern um Gunst und Geld der Reisenden. Calais ist ein Wartesaal. Marécaux freilich zieht es nicht fort. Er will hier den Neuanfang wagen.

"Von der Haftentschädigung werde ich mir hier eine Wohnung kaufen", sagt er. Ein befreundeter Gerichtsvollzieher, dem er bereits als Assistent zuarbeitet, will ihn zum gleichberechtigten Partner machen. Marécaux scheint sich in den Geschäftsräumen des künftigen Kollegen wohl zu fühlen. Leichten Schrittes steigt er Treppen empor, läuft die Galerien im ersten Stock entlang. "Der Besitzer ist jemand, der die ganze Zeit zu mir gehalten hat", erzählt Marécaux. Im Namen der Justiz wird er also eines Tages wieder losziehen.

"Ich kann das jetzt vielleicht sogar besser als vorher", versichert er. "Ich kenne sie inzwischen ja wie kaum ein anderer."

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6.30 Uhr war es, als Marécaux das "Aufmachen, Polizei!" hörte. Er sollte seine Kinder drei Jahre lang nicht wiedersehen.

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