Kinder von heute werden nicht arbeitsfähig sein

„Deutschland verdummt“, behauptet Michael Winterhoff in seinem Buch. Der Kinderpsychiater findet klare Worte, wenn es um die Zukunft der Bundesrepublik geht. Die Kinder von heute werden nicht arbeitsfähig sein, wenn wir nicht sofort gegensteuern, meint Winterhoff. Im Interview erklärt er, wie wir unsere Gesellschaft retten können.

Herr Winterhoff, in Ihrem neuen Buch kritisieren Sie das deutsche Bildungssystem. Sie haben es „Deutschland verdummt“ genannt. Was hat es damit auf sich?

Michael Winterhoff: Der Titel meines Buches bezieht sich auf die psychischen Leistungen der Schüler. Deren Entwicklung spielt in Kita oder Schule heutzutage keine Rolle mehr. Soft Skills, Arbeitshaltung, die Fähigkeit, zwischen Arbeit und Privatem unterscheiden zu können: Das können immer weniger Schulabgänger heutzutage.

Sie haben keinen Sinn mehr für Pünktlichkeit. Strukturen und Arbeitsabläufe zu erkennen, fällt ihnen schwer. Vielen fehlen Grundkenntnisse in Deutsch und Mathe. An oberster Stelle steht heute das Handy – weit über dem Kunden. Immer mehr Schüler brechen ihre Ausbildungen ab, über ein Drittel der Studenten mit Studienabschluss überstehen die Probezeit im Betrieb nicht; es fehlen ihnen soziale Fähigkeiten oder sie haben eine starke Selbstüberschätzung (Konrad-Adenauer Studie).

Und daran ist das Bildungssystem schuld?

Winterhoff: Richtig. Kinder brauchen ein Gegenüber, das sie anleitet, sie ermutigt. Jemanden, der ihnen zeigt, dass man sich auch mal anstrengen muss – und dafür aber auch belohnt wird, beispielsweise mit Lob. Vor allem in der Kita brauchen Kinder Bezugspersonen, an denen sie sich orientieren können. Soziale und emotionale Intelligenz entwickeln sie nur am Gegenüber.

Aber genau diese Art der Bindung ist heutzutage nicht mehr vorgesehen in der Schule – die Kinder sind dort bewusst auf sich selbst gestellt.

Also verhalten Erzieher und Lehrer sich falsch?

Winterhoff: Das Problem sind nicht Lehrer und Erzieher. Das Problem beginnt weiter oben. Vor etwa 20 Jahren wurde das Bildungswesen umgekrempelt – leider zum Schlechten. Auf Betreiben der OECD und von Ideologen wurde über die Bildungspolitiker an den Lehrern und Eltern vorbei das autonome Lernen durchgesetzt. Das Kind soll im Kindergarten aussuchen, in welchen Raum es geht und was es macht. In der Schule soll das Kind sich möglichst viel selbst beibringen. Diese Vorstellungen wurden nie auf ihre Wirksamkeit hin untersucht.

Wenn ein Mediziner eine neue Behandlungsmethode entwickelt, muss diese mehrfach gegengetestet werden. Hat man allerdings im Bildungswesen eine neue Idee, wird sie mit all ihren Folgen für die Kinder einfach umgesetzt.

Selbstständiges Lernen ist also etwas Schlechtes?

Winterhoff: Ein selbstbestimmendes Lernen: Ja! Ein Kind kann noch gar nicht entscheiden, was es lernen muss. Lehrer sind jetzt nur noch „Lernbegleiter“, decken eine Lerntheke, an der sich die Kinder bedienen sollen. Für die Ausführung ist das Kind verantwortlich.

Es gibt Grundschulen, an denen Schulverträge mit den Kindern abgeschlossen werden, in den Pausen gibt es Viertklässler als Streitschlichter. Viele Kinder müssen Schallschutzkopfhörer tragen, um in Ruhe arbeiten zu können. Wir haben jetzt in vielen Bundesländern die Verbundschreibschrift und die Rechtschreibung abgeschafft.

Lehrer und Erzieher müssten also strenger sein?

Winterhoff: Nein! Sie müssen Lehrer sein und nicht Lernbegleiter. Nur an den Bezugspersonen kann sich das Kind orientieren und entwickeln. Soziale Fähigkeiten und Arbeitshaltung entwickeln sich nur durch häufiges Einüben. Nur wenn Erzieher und Lehrer Kinder anleiten und eng begleiten, entwickelt sich ihre emotionale und soziale Psyche. Daher brauchen wir einen personenbezogenen und nicht lernorientierten Unterricht.

Dabei spricht nichts gegen verschiedene Unterrichtsformen wie Gruppen- oder Partnerarbeit. Allerdings sind für die Umsetzung dieser Unterrichtsformen deutlich kleinere Gruppen erforderlich.

Nebenbei: Erst mit 15 Jahren geht der Schüler für sich in die Schule, davor für die Eltern. So putzt auch ein Kind nur seine Zähne, wenn die Eltern es begleiten.

Welche Folgen hat die aktuelle Bildungspolitik Ihrer Meinung nach?

Winterhoff: Wenn wir nicht gegensteuern, gerät unsere Gesellschaft in eine katastrophale Schieflage. Unsere Kinder wachsen zu Narzissten und Egozentrikern heran, die nicht auf Andere achten, sich nur um sich selbst drehen und lustorientiert in den Tag leben.

Wertschätzung ist ihnen kein Begriff mehr. In einem Sozialstaat müssen die Menschen aber füreinander da sein. Doch Menschen, die sich wie kleine Kinder aufführen, nicht fähig sind zu arbeiten, die sprengen dieses System.

Sie erwähnen in Ihrem Buch auch den Umgang mit der Digitalisierung.

Winterhoff: Mit der Digitalisierung gehen wir komplett falsch um. Zum einen ist es falsch, Kindern unter zehn Jahren Smartphones oder Tablets in die Hand zu geben – es unterdrückt ebenfalls ihre psychische Entwicklung. Durch die permanente Lustbefriedigung, die das Internet nun mal bietet, werden sie in ihrem Kleinkind-Weltbild bestätigt: Ich wische, also passiert etwas.

Die Folge: Die Kleinkind-Vorstellung, sich jederzeit bedienen und alles steuern zu können, setzt sich bis ins Erwachsenenalter fest. Noch schlimmer ist die heutige Vorstellung, wir müssten bereits im Kindergarten und Grundschule Kindern diese Geräte zugänglich machen. Kinder müssen erst einmal die Welt erspüren, haptisch begreifen als Grundlage für eine gesunde psychische Entwicklung. Jetzt schicken wir sie auch noch in eine unwirkliche Parallelwelt.

Die Beschäftigung mit dieser Technik müsste auf der weiterführenden Schule einen Platz haben, vorher brauche ich digitalfreie Oasen.

Hat die Digitalisierung auch Einfluss auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind?

Winterhoff: Natürlich. Wir Erwachsenen erhalten viel zu viele Meldungen und müssen zu viele Entscheidungen treffen. Das führt zu einer Reizüberflutung, wir sind dann irgendwann nur noch durch Reize bestimmt. Viele Erwachsene stehen deshalb heute ständig unter Strom und sind angespannt. Sie funktionieren im Überlebensmodus, sind aber eigentlich total KO.

Und das übertragen sie dann auf ihre Kinder?

Winterhoff: Kinder würden Bezugspersonen brauchen, die in sich ruhen, das Kind anleiten, begleiten und viele Dinge einüben. Eltern unter Strom können das nicht ausreichend leisten. Ein Großteil der Kinder in Deutschland verbringt heute mindestens acht Stunden in Schulen oder Betreuungseinrichtungen. Das ist der Ort, wo man sie auffangen und ihnen soziale und emotionale Intelligenz beibringen müsste. Aber dafür müsste sich einiges ändern.

Und das wäre?

Winterhoff: Als erstes und zwar sofort: die Abschaffung des autonomen Lernens. Wenn man den vielen Kindern, die sich zu Hause nicht mehr ausreichend entwickeln können, helfen will, dann brauchen wir zusätzlich deutlich kleinere Gruppen. Kindergärten dürfen kein Kostensparmodell mehr sein!

Ich fordere, dass in Kindergarten und Grundschule auf 15 Kinder zwei Lehrer oder Erzieher kommen. Und wir müssen den Lehrern wieder die Möglichkeit geben, Lehrer zu sein und selbst darüber zu entscheiden, wie sie ihren Unterricht gestalten, um die Kinder weiterentwickeln zu können. Und das geht nur über Bindung und Beziehung.

Was ist denn mit den Kindern, die aktuell „verdummen“? Sind die bereits verloren?

Winterhoff: Prinzipiell sollte ein fünfjähriges Kind in der Lage sein, jede Aufgabe auszuführen, die man ihm gibt. Das ist heute ganz oft nicht der Fall. Aber das ist noch kein Grund, diese Kinder abzuschreiben: Die verpassten psychischen Entwicklungen können bis zum 25. Lebensjahr nachgeholt werden.

Wenn es keine Hoffnung mehr gäbe, dann hätte ich mein Buch nicht geschrieben. Deshalb wünsche ich mir: Sehen Sie sich an, was in Kindergärten und Schulen passiert. Und setzten Sie sich dafür ein, dass sich etwas ändert!

Focus Online

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